G arbeitet als Psychiater in einem großen Krankenhaus mit einer psychiatrischen und mehreren somatischen (Innere, Chirurgie, Neurologie, Dermatologie) Fachabteilungen. In diesem Krankenhaus entwickeln zwei hochbetagte Patienten, nennen wir sie einmal A und B, ein Delir (ein Delir muss nicht nur ein Alkoholentzug sein, sondern delirante Bilder sieht man auch bei allen möglichen anderen Entzügen oder bei hirnorganischen Erkrankungen).
Sowohl A wie B sind auf internistischen Stationen untergebracht. Der diensthabende Psychiater, G, wird nun von den Internisten zu einem Konsil gerufen, untersucht die Patienten, sagt hmmhmm und murmelt irgendetwas in seinen Bart (G ist manchmal etwas wunderlich). Bei Patient A schreibt er ein ellenlanges Konsil und bespricht den Fall telefonisch mit seiner Oberärztin D. D empfiehlt ihm, auf jeden Fall noch in das Konsil zu schreiben, dass die Internisten eine Extrawache (eine zusätzliche Pflegekraft) bestellen sollen, die sich ausschließlich um den Patienten kümmern soll.
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Nachdem G sich um A gekümmert hat, geht er zu B. B ist tumorkrank, hat einen weiteren Chemotherapiezyklus hinter sich, schlechte Blutwerte und ist vollkommen neben der Spur: er läuft nackt über den Flur und ist davon überzeugt, dass ihn alle umbringen wollen. G ordnet an, den Patienten mit Hilfe einiger Pfleger zu fixieren (an das Bett zu fesseln) und ihm die Schmerzmedikamente, die der Patient aus Furcht vergiftet zu werden, nicht mehr eingenommen hatte, wieder zu verabreichen. Da der Patient nun fixiert ist, wird jetzt eine Pflegekraft benötigt, die den Patienten überwacht (das ist vorgeschrieben bei jedem fixierten Patienten). Die Internistin teilt nun G mit, dass die internistische Station keine Pflegekraft stellen kann, um Herrn B zu überwachen.
G fragt daher das Pflegepersonal der geschlossenen psychiatrischen Station, ob sie den Patienten B übernehmen können, diese bejahen dieses, so dass G den Patienten auf die Psychiatrie übernimmt. G schaut dann die Laborwerte von B durch und stellt fest, dass B eine erhebliche Anämie und zu wenig Erythrozyten (rote Blutkörperchen) hat. G bespricht sich mit der Internistin und fordert zwei Erythrozytenkonzentrate an. Auf Bitte der (psychiatrischen) Schwestern ordnet G eine Extrawache an und geht nach 12 ereignisreichen Dienststunden und einigen Überstunden nach Hause.
Am nächsten Tag bekommt G einen wütenden Anruf von Dr. D (die psychiatrische Oberärztin, erinnert sich die*der geneigte Leser*in, die*der, Kompliment, bis hierher durchgehalten hat). D macht G heftige Vorwürfe: er hätte Patient B nicht übernehmen sollen, sondern hätte die Internisten zwingen sollen, in deren Personalbestand eine weitere Extrawache zu finden. Nachdem der Patient dann doch auf die psychiatrische Station übernommen war, hätte G aber auf keinen Fall eine Extrawache anordnen dürfen, sondern hätte nur die Fortsetzung der Fixierung genehmigen sollen, so dass die Schwestern mit der Regelbesetzung die Überwachung des Patienten hätten sicherstellen müssen. Es gäbe eine ausdrückliche Anordnung des Regionaldirektors, keine Extrawachen oder Leasingkräfte mehr anzufordern. Außerdem sei die Behandlung mit den Erythrozytenkonzentraten ja sehr aufwändig und teuer gewesen, dies hätten die Internisten ja bewusst in Kauf genommen, um die Psychiatrische Abteilung mit hohen Kosten zu belasten.
G versteht die Welt nicht mehr: die Patienten der eigenen Abteilung sollen anscheinend so billig wie möglich (und nach Meinung von G nicht ausreichend sicher) behandelt werden, während die anderen Abteilungen des Hauses gezwungen werden sollen, eine Extrawache anzufordern, falls Patienten mit psychiatrischen Begleiterkrankungen bei ihnen verbleiben.
G zieht daraus den Schluss, dass anscheinend innerhalb des besagten Krankenhauses (wo genau Dr. G damals arbeitete, weiß ich nicht) eine Art Wettbewerb stattfindet, welche Abteilung die Patienten am Rande dessen, was ärztlich noch verantwortbar ist, mit den geringsten Kosten versorgen kann. G glaubt, im Interesse der Patienten eine vernünftige und pragmatische Lösung gefunden zu haben, und tatsächlich geht es A und B nach Gs Therapie wieder besser; nur G ist seitdem irgendwie verändert: als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, murmelte er nur irgendwas von „Z73…F44.0…Z56…F48.0“.